Immer weniger Menschen können sich die Mieten in Berlins Innenstadt leisten. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung hat jahrelang versäumt, die soziale Spaltung der Stadt mit politischen Mitteln einzudämmen. Warum darf Einkommen darüber entscheiden, wo Menschen leben können?
Die Konkurrenz beim Casting ist hart, sehr hart. Es ist ein bisschen so wie bei der Superstarfindung im Fernsehen: Wer etwas erreichen will, der muss einstecken können, der muss kämpfen, der muss
verzichten können. In diesem Fall: Auf eine angemessene Miete. Wohnungsbesichtigung nahe des Kreuzberger Chamissoplatzes, an einem sonnigen Samstagnachmittag im März: Das Haus ist in keinem guten
Zustand, die Fassade bröckelt, die Tapete innen auch, zu haben sind 75 Quadratmeter, das schlauchförmige Bad hat seit mehreren Jahrzehnten keine Sanierung mehr erlebt, es sieht ein bisschen
ranzig aus. Die früheren Mieter haben 570 Euro netto kalt gezahlt, also 7,60 Euro pro Quadratmeter. Die Berlinhaus Verwaltung GmbH des Investors Suel Prajs, dem auch Luxusimmobilien wie die
Rosenhöfe am Hackeschen Markt gehören, verlangt jetzt 110 Euro mehr, die neuen Mieter werden also mehr als neun Euro pro Quadratmeter bezahlen müssen. Eine Mieterhöhung von fast 20 Prozent. Ganz
einfach weil Eigentümer sich das in diesem Kiez erlauben können. Die Leute, die sich durch die Wohnung drücken, junge Paare, viele noch Studenten, reißen sich um die Wohnung. Am Abend wird die
Hausverwaltung aus mehreren perfekt zusammengestellten Mappen mit Schufa-Auskunft, Mietschuldenfreiheitsbescheinigung und Gehaltsabrechnungen einen Kandidaten auswählen können. Die neuen Mieter
werden auf eigene Kosten Schönheitsreparaturen durchführen und auf längst fällige Maßnahmen wie die Badsanierung verzichten. Hauptsache es klappt mit der Wohnung.
So sieht die Realität in Bezirken wie Kreuzberg, Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Nordneukölln aus: Wer es sich irgendwie leisten kann, lässt einen horrenden Anteil seines Einkommens für Miete
draufgehen, um in der Innenstadt leben zu können. Bei Neuvermietungen sind Eigentümern keine Grenzen nach oben gesetzt.
Im März hat die Wohnungsbaugesellschaft GSW ihren Wohnmarkt-Report veröffentlicht. In keinem anderen Bezirk sind die Mieten im vergangenen Jahr so extrem gestiegen wie in
Friedrichshain-Kreuzberg, nämlich um durchschnittlich sieben Prozent. Auch die Preise für Eigentumswohnungen sind nirgends sonst so stark nach oben gegangen wie in Friedrichshain-Kreuzberg und
Mitte. Überall hängen an Häuserfassaden Plakate wie dieses nahe dem Chamissoplatz: „Ob Loft, Townhouse, Remise oder Altbauperle, sichern Sie sich Ihren individuellen Lebenstraum". Klar, dass
Townhouses und Altbauperlen nicht gerade dazu beitragen, dass sich preiswerter Wohnraum in der Innenstadt vermehrt.
Verzweifelt-komisch mutet der Bericht eines Wohnungssuchenden an, der im Blog des Berliner Stadtsoziologen Andrej Holm von seiner Odyssee auf der Suche nach einer preiswerten Wohnung in
Friedrichshain berichtet: „Die tollste Szene war, als ein Interessent in die Menge rief: ´Ihr Scheißmünchner und Yuppies, sucht euch gefälligst was anderes´. Er selbst zog nach Tempelhof.
Die Berlinhaus Verwaltung, die am Chamissoplatz die Mieten in die Höhe jagt, spielt auch anderswo eine eher unrühmliche Rolle, nur wenige Kilometer entfernt, in der Charlottenstraße, ehemaliges
Kreuzberger Mauerrandgebiet. 1987 wurde hier zur Internationalen Bauausstellung einer der wenigen Bauten des amerikanischen Architekten John Hejduk realisiert. Der Hejduk-Wohnturm mit zwei
angrenzenden fünfstöckigen Wohnhäusern, errichtet im sozialen Wohnungsbau, gilt heute als Ikone der Postmoderne. Die Berlinhaus Verwaltung hat das Gebäude bei einer Zwangsversteigerung erworben.
Heftige Proteste von renommierten Architekten weltweit brachen vor wenigen Wochen los, als bekannt wurde, dass der Turm „im Bauhausstil" saniert werden sollte, völlig an Hejduks ursprünglichem
Design vorbei.
Viel einschneidender als diese Gestaltungsfrage ist allerdings etwas anderes: Den Mietern des Hejduk-Baus droht wie zehntausenden anderen Sozialmietern der Zwangsumzug. 2003 hat der Senat den
Ausstieg aus der Anschlussförderung des sozialen Wohnungsbaus beschlossen, 28.000 Wohnungen werden insgesamt davon betroffen sein. Grob zusammengefasst bedeutet das: Der Eigentümer, der von den
Mietern bisher eine sozialverträgliche Miete verlangen konnte, weil der Restbetrag vom Senat aufgestockt wurde, kann mit dem Wegfall der Förderung die volle so genannte Kostenmiete verlangen. Und
die liegt in absurden Höhen, im Hejduk-Turm bei mehr als 13 Euro netto kalt pro Quadratmeter. Franz Schulz, der Bezirksbürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg, sagt, es sei richtig, dass der
Senat aus dem völlig irrsinnigen Fördermodell ausgestiegen ist. „Spekulanten und geschlossene Fonds wurden mit Steuergeldern gemästet. Das Problem ist aber, dass jetzt soziale
Abfederungsmechanismen fehlen." Im Fall des Hejduk-Turms ist es Franz Schulz gelungen, den Eigentümer persönlich davon zu überzeugen, die Miete nur auf 8,50 Euro zu erhöhen - weil der, wie Schulz
selbst sagt, ihm noch einen Gefallen schuldete. So viel Glück hat nicht jeder Sozialmieter.
Wiederum nur ein paar Straßen weiter, in der Schöneberger Straße, um die Ecke vom Anhalter Bahnhof, ist der Name von Sebastian Jung fast der einzige deutsche auf der vergilbten Klingeltafel. Ein
schmaler, halb unterirdischer Gang mit Stahltüren links und rechts führt zum Aufzug. Als Investor sieht man nicht nur den schäbigen Zustand der Anlage, sondern vor allem: Top-Citylage, der
Potsdamer Platz gleich um die Ecke. Die Sozialwohnungen der Fanny-Hensel-Siedlung wurden wie der Hejduk-Turm zur Internationalen Bauausstellung errichtet. Sebastian Jung, 35, spricht für die
Betroffenen der Siedlung, er reicht Orangensaft, und seine Stimme überschlägt sich, wenn er von systematischer Vertreibung spricht, und davon, dass Menschen entsorgt werden sollen, er redet, ohne
Luft zu holen. Er ist so ein Typ, der einem schrecklich auf die Nerven geht, wenn man nicht betroffen ist oder sein Gegner. Und über dessen Penetranz und Herzblut man verdammt froh ist, wenn man
ein gemeinsames Problem hat. Mit dem Auslaufen der staatlichen Förderung hat der neue Eigentümer die Mieten um 32 Prozent erhöht. „Die meisten Mieter müssen ausziehen. Wer Hartz IV bekommt, und
das sind hier die meisten, hat sowieso keine Chance, weil die neuen Mieten weit über der gesetzlich geregelten Maximalmiete für Hartz IV-Empfänger liegen", sagt Sebastian Jung. Sie wissen bloß
nicht wohin.
Franz Schulz hat einen Runden Tisch für die Betroffenen ins Leben gerufen. Die zuständige Senatorin für Stadtentwicklung, Ingeborg Junge-Reyer, hat sich bisher geweigert, daran teilzunehmen.
Sebastian Jung hat viele Geschichten von Betroffenen zu erzählen, zum Beispiel die von Hatice Caglayan, Mutter von drei Söhnen, die ihre Miete ohnehin schon seit mehr als zwei Jahren mit 180 Euro
aus ihrem Hartz-IV-Satz aufgestockt hat. Jetzt, mit einer Kaltmietenerhöhung von fast 200 Euro, muss sie raus.
Der Stadtsoziologe Andrej Holm beobachtet seit Jahren die Gentrifizierungswelle in den Berliner Innenstadtbezirken. In Berlin, sagt er, seien bis Anfang der Neunziger viele Ressourcen einer
behutsamen Stadtentwicklung genutzt worden. Mit dem Beginn des neuen Jahrtausends wurden sie fallen gelassen. Peter Strieder, Stadtentwicklungssenator von 1996 bis 2004, prägte den Begriff des
„Neuen Urbaniten", gut verdienende Bildungsbürger, die er mit seiner Stadtentwicklungspolitik locken wollte. „Berlin teilte natürlich die Angst aller Städte: Dass die Mittelklasse ans Umland
verloren geht und ihre Steuern in Straußberg oder sonst wo zahlt", sagt Andrej Holm. „Deshalb entwickelte man Strategien, um die Stadt attraktiver zu machen für jene, die Geld bringen, also
Steuerzahler und Unternehmen." Andrej Holm sagt, es gebe viele Möglichkeiten für die Stadt, zu einer sozialen Wohnungspolitik zurückzufinden. „Die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften könnten,
statt auf Profit zu achten, verpflichtet werden, preiswerten Wohnraum zur Verfügung zu stellen."
Das Problem ist, dass die Senatorin Junge-Reyer beharrlich von einem entspannten Berliner Mietmarkt spricht. „Aber eine Stadt besteht doch aus vielen kleinen Teilen mit unterschiedlichen
Dynamiken", sagt Andrej Holm. Er fragt sich, ob Junge-Reyers Beharren naiv ist oder ob sie versucht, Realität zurechtzubiegen. Mietern in Kreuzberg hilft es jedenfalls wenig, dass der
Wohnungsmarkt in Spandau entspannt ist.
Franz Schulz, der grüne Bezirksbürgermeister, der seit Jahren immer wieder mit dem „Eiskalten Engel", wie er Frau Junge-Reyer nennt, kämpft, ist froh, dass über das Thema sozialverträgliche
Wohnungspolitik immerhin wieder diskutiert wird. Er hat schon im vergangenen Jahr einen offenen Brief an Klaus Wowereit geschrieben, in dem stand, dass die Möglichkeiten der Bezirke, ihre
einkommensschwachen Mieter zu schützen, erschöpft seien. Franz Schulz will das Mietrecht auf Bundesebene verändern, will mithilfe einer Bundesratsinitiative Mietsteigerungen und Verdrängung
aufhalten.
Den Bezirken sind schon vor Jahren wichtige Mittel verloren gegangen, mit denen sie Mieter schützen können: Mietobergrenzen wurden 2004 gerichtlich gekippt, das Baurecht wurde liberalisiert,
viele Baumaßnahmen sind nicht mehr genehmigungspflichtig. Und das Ende der Zweckenfremdungsverbotsverordnung, ein fürchterliches Wort, hat dazu geführt, dass die Bezirke nicht mehr viel tun
können, wenn Investoren wenig mieterfreundliche Pläne verfolgen. Ein trauriges Beispiel findet, wer den Fanny-Hensel-Kiez wieder in Richtung Bergmannstraße verlässt. In Riehmers Hofgarten, der
wunderschönen, Ende des 19. Jahrhunderts erbauten Wohnanlage, steht ein Drittel der Wohnungen leer, sagt eine Mieterin. Der neue Eigentümer will leer werdende Wohnungen in „Boarding Houses" für
Wohnen auf Zeit umwandeln, und Wohnungen nach Luxussanierung als Eigentumswohnungen zum Verkauf anbieten. Für viele der Mieter sind die Betriebskosten explodiert, weil Heizen extrem teuer wird,
wenn um einen herum niemand mehr wohnt.
Darf Einkommen darüber entscheiden, wo jemand wohnt und lebt? Franz Schulz sagt ganz leise: „Politik hat nicht darüber zu entscheiden, ob jemand mit Realschulabschluss das Recht auf Innenstadt
hat oder nicht. Eine solche Einstellung ist unglaublich borniert und arrogant. Es ist absurd, dass sich der Senat als einer der größten Verdränger überhaupt aufspielt und parallel das Konzept der
sozialen Stadt propagiert." Die Ränder den Armen, die Mitte den Reichen, darauf laufe es hinaus. Dass sich immer mehr Menschen bedroht fühlen, zeigen die vielen neuen Mieterinitiativen, die sich
auch in Stadtteilen wie Treptow bilden, an denen die große Verdrängungswelle bisher noch vorbeigegangen ist. Attacken gegen Luxuswohnprojekte wie die Carlofts in der Reichenberger Straße sind
Alltag geworden. Genau wie Nachrichten wie jene Mitte April, als ein Einsatzkommando der Polizei gewaltsam ein besetztes Cafe am Heinrichplatz räumte, dessen Inhaber vor einer drastischen
Mieterhöhung kapituliert hatte.
Die Frage, ob Geld darüber bestimmen darf, wo jemand wohnt und lebt, hat die Senatsverwaltung für die Mieter der Fanny-Hensel-Siedlung und damit für alle anderen ehemaligen Sozialmieter anders
beantwortet als Franz Schulz: Sie hat den Mietern zugesichert, dass angemessener, preiswerter Ersatzwohnraum in der Innenstadt zur Verfügung stünde. Auf der Liste, die die Mieter bekamen, standen
keine bezahlbaren Wohnungen in Kreuzberg oder den benachbarten Stadtvierteln. Sondern in Falkensee und Buckow.