Die Nebenanderen

NEON,  01/2009

 

Man trifft sie im Treppenhaus oder unten an der Mülltonne: Die alten Nachbarn. Vier Neon-Autoren haben nebenan geklingelt. Sie haben von den Besuchen gelernt....

 

....dass man sich täuschen kann: Sükrü Özdemir, 72, aus Berlin

 

Ein einziges Mal hatte ich bei Özdemirs geklingelt, kurz nachdem ich in die Wohnung nebenan gezogen war. Am Abend wollten wir feiern, man solle doch bitte Bescheid sagen, falls die Musik zu laut würde. Herr Özdemir antwortete etwas auf Türkisch, das ich nicht verstand. Als ich viele Monate später wieder klingelte, ging er zurück in die Wohnung und kam mit dem Telefon wieder. Sein Vater könne sich auf Deutsch nicht verständigen, sagte der Sohn, Ilhan, am anderen Ende der Leitung, aber er würde sich bestimmt freuen, mich kennen zu lernen. Er selbst würde vorbeikommen und dolmetschen.


Frau Özdemir lacht, und bringt hellblaue Plüschpantoffeln für mich, und Tee und Baklava. Deutschland wurde Ende der Sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die neue Heimat von Sükrū Özdemir. In einer Zeit, zu der selbst die Vorboten von Integrationskursen und Einbürgerungstests Jahrzehnte entfernt waren. Eine Zeit, in der es nicht um Integration ging, sondern um Arbeitskraft. Die Zeit des Wirtschaftswunders, in der deutsche Unternehmen ihre Mitarbeiter weit in den Osten sandten, um Arbeiter zu finden. Sükrū Özdemir fanden sie in einem kleinen Dorf in Anatolien. Wie Vieh habe man die jungen Arbeiter sortiert, erzählt er. In den Mund wurde geleuchtet, ob das Gebiss gut genug war.

 

Wer auf die richtige Seite sortiert wurde, durfte nach Deutschland reisen. Sükrū Özdemir fuhr mit dem Zug nach München, wurde von dort sofort weiter nach Berlin geschickt. Bei Siemens fing er als Dreher an. Die Monate im Containerlager waren die schlimmsten seines Lebens, sagt er, dann fand er die Wohnung in Kreuzberg. Nach und nach folgte ihm die Familie, Bagdat und die fünf Kinder. Als Dreher musste man nicht Deutsch sprechen, auch nicht, wenn man in der Wäscherei arbeitete wie Bagdat, es kümmerte keinen. So kam es, dass Sükrū und Bagdat Özdemir, 72 und 68 Jahre alt, die Sprache des Landes, in dem sie seit 40 Jahren leben, nicht sprechen. Bagdat hat nie Lesen und Schreiben gelernt. Sie schafft es dennoch mühelos, jedes beliebige Einkaufszentrum in Berlin zu finden und dort zu viel Geld zu lassen, sagt er.

Allerdings wird es zunehmend beschwerlich, die Gelenke. Sükrū klopft auf sein Knie und formt mit den Händen eine Kugel. Weil die Frau zu dick ist, will er sagen. Beide lachen.

 

Im Fernsehen läuft eine türkische Telenovela. Aus dem Nebenzimmer dringt röchelnder Husten. Ich kenne das Husten. Manchmal, wenn wir nachts bei offenem Fenster schlafen, dringt es ins Schlafzimmer. Nedim, einer der Söhne, liegt nebenan im Dunklen. Man trifft ihn öfters im Treppenhaus, und auf der Straße, wenn er mit hochgezogenen Schultern Zigaretten raucht. Ein stattlicher Mann von 43 Jahren, der Selbstgespräche führt. Nedim war 16, als er sich veränderte. Die Nerven, sagt Herr Özdemir. Nedim sprach nicht mehr. Er hat seither nie wieder eine Schule besucht oder gearbeitet, er lebt mit den Eltern in der Zweiraumwohnung, das Ehebett steht im Wohnzimmer.


Damals, als Sükrū Özdemir aus dem Zug stieg, wollten sie ein paar Jahre bleiben. Sie werden hier nicht mehr weggehen. Vom Ersparten haben Sükrū und Bagdat eine Wohnung in der Türkei gekauft. In Ankara, nicht in Anatolien. Was sollen sie da, fragt er, dort ist doch nichts. Selbst in Ankara wird es ihm stets nach ein paar Monaten langweilig, und er sehnt sich zurück nach Kreuzberg, zu den Freunden ins Kaffeehaus. Ob Herr Özdemir in der deutschen Gesellschaft angekommen ist? Es wird Menschen geben, die das verneinen würden. In Kreuzberg jedenfalls ist Sükrū Özdemir schon vor langer Zeit angekommen.